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21. April 2023

Vortrag von Aleida Assmann

Leider musste die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann wegen des Bahnstreiks ihre Teilnahme an der Veranstaltung zum Buch "Kein Land, nirgends" kurzfristig absagen. Sie schickte aber freundlicherweise ihren Vortrag, der von Cornelia Vossen vorgelesen wurde. Lesen Sie hier einen Ausschnitt:

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Zerrissene Biographien und vergessene Werke
Das nationalsozialistische Deutschland war nicht nur für Juden ein Auswanderungsland, sondern auch für politische Feinde wie überzeugte Aufklärer, hervorragende KünstlerInnen und Wissenschaftlerinnen und engagierte Demokraten. Von der rassischen und politischen Vertreibung konnten Aufnahmeländer wie die USA oder auch die Türkei profitieren, in Deutschland haben die zerstörten Biographien tiefe Narben hinterlassen. Wie nach dem Verlust eines Organs führte die gewaltsame Austreibung jüdischer Menschen langfristig in diesem Land zu ‚Phantomschmerzen‘, die hier im Exilmuseum einen Ort des Andenkens und der Würdigung finden können.

Das Exilmuseum ist der Ort, an dem wir das Leid von Menschen konkret nachvollziehen können, deren Biographien von einer menschenverachtenden Staatsmacht gewaltsam zerrissen wurden. Wir brauchen es aber nicht nur für deren Biographien, sondern auch für ihre Gedanken und Werke, die die Gesellschaft damals nicht hören wollte und die meist mit ihnen untergegangen sind. Viele ihrer Geschichtserfahrungen und -visionen, die ausgeschlossen und übergangen wurden, sind für uns heute von aktueller Bedeutung. Ein Beispiel ist Stefan Zweig mit seinen Gedanken über ‚die moralische Entgiftung Europas‘, die er 1932 zu Papier brachte, dem Jahr, in dem er fliehen musste. Seine Mahnungen an die Zeitgenossen wollte damals keiner hören. Er schrieb sie im Nachhall des Ersten Weltkrieges aus der Position einer „Generation, die den fürchterlichsten Hass der Welt gekannt (und) diesen Hass hassen gelernt hat, weil er unfruchtbar ist und die schöpferische Kraft der Menschheit mindert.“ Er konnte nicht mehr erleben, dass seine konstruktiven Ideen für eine zukünftige EU nach 1945 eins zu eins umgesetzt wurden. Was er statt dessen erlebte, war, dass sich der Erste Weltkrieg unaufhaltsam in den Zweiten Weltkrieg fortsetzte.

Unter den vielen Künstlern und engagierten Demokraten des Widerstands war auch Frederic W. Nielsen (19013-1996), der heute völlig vergessen ist und von dessen Witwe ich regelmäßig Post aus Freiburg bekomme. Er floh 1933 nach Prag, um seinen Kampf gegen Hitler von dort aus fortzusetzen. Dafür musste er seinen Namen ändern, um seine zurückgebliebenen Eltern nicht zu gefährden. Von Prag floh er weiter über Polen nach Großbritannien und teilte dort das Schicksal vieler Exilanten: er wurde als gefährlicher Ausländer‘ (enemy alien) in einem Lager in Kanada interniert. Nach einem weiteren Jahrzehnt im amerikanischen Exil kehrte er 1960 nach Deutschland zurück, wo er sich seinen literarischen Schriften widmete und für Menschenrechte einsetzte. Anerkennung hat er von seinen Landleuten nie erfahren, sein Werk ist so gut wie vergessen. Die Rückkehr in die Heimat bedeutete ein weiteres Exil.

Das gilt auch für einen anderen Kandidat fürs Exilmuseum, dem ich im Rahmen der aktuellen Feierlichkeiten des 175-jährigen Paulskirche-Jubiläums in Frankfurt begegnet bin. Fritz von Unruh (1885-1970) wurde 1948 von dem sozialdemokratischen Bürgermeister Walter Kolb aus den USA nach Frankfurt zurückgeholt, um bei der 100-jährigen Gedenkveranstaltung in der wiederaufgebauten Paulskirche die Rede zu halten. Seine Bücher waren 1933 verbrannt worden. Von Unruh trug seinen Namen zurecht. In der Paulskirche hielt er eine leidenschaftliche Rede an die daheimgebliebenen Deutschen, die er als Alt-Nazis und charakterlose Mitläufer beschimpfte. In dieser Rede übernahm er sich und brach mehrfach aus Erschöpfung zusammen. Ebenso wie Thomas Mann konnte von Unruh erleben, dass Exilanten in Deutschland nicht willkommen waren. Viele Daheimgebliebene hatten sich in eine ‚innere Emigration‘ zurückgezogen und sahen sich nicht als Täter sondern als Opfer von Krieg und Bombennächten an. Zwischen äußerer und innerer Emigration tat sich ein Abgrund auf; was Fritz von Unruh zu sagen hatte, wollte niemand hören. Wie er haben viele Künstler nach ihrer Rückkehr aus dem Exil keine Rehabilitation erfahren. Sie schrieben weiter und kämpften gegen Vergessen und den Zeitgeist, eine Anerkennung blieb aus. Das Exilmuseum könnte eine Adresse werden, wo sie endlich ankommen.

Deutschland als Einwanderungsland
Die Flucht- und Exilgeschichten der Gegenwart sind in eine ganz andere historische Situation eingebettet. Heute geht es nicht um Flucht aus Deutschland, sondern um Flucht nach Deutschland. Menschen anderer Herkunft und Kultur machen sich auf den Weg in Richtung Europa und hoffen dabei auf einen Pass, Arbeit, Frieden und eine Zukunft in einer neuen Heimat. Sie setzen ihr Leben aufs Spiel und entscheiden sich für die Flucht, weil ihre eigene Heimat durch Gewalt und Kriege zerstört ist. Sie sind Getriebene in einer Notsituation; es ist der Druck von akuter Lebensgefahr und Gewalt, der ihnen den Traum einer besseren Zukunft eingibt und sie in Bewegung setzt. Der größere Kontext dieser Fluchtbewegungen sind geopolitische Kriege um Macht, Ressourcen und Einflusssphären, aber auch die Klimakrise mit Dürren und andere politische Krisen. Nachdem man lange auf eine kosmopolitische Befriedung der Welt durch einen weltverbindenden Handel gesetzt hatte, treten seit einem Jahrzehnt zunehmend die unerwünschten Folgen der Globalisierung ins Bewusstsein. Die Opfer dieser Entwicklungen und ihr ikonisches Symbol sind Menschen auf der Flucht. Sie sind zur emblematischen Figur des 21. Jahrhunderts geworden.

Was aber hat der Flüchtling der NS-Zeit mit dem Flüchtling der Gegenwart gemein? Das Buch, das wir heute Abend vorstellen, stellt zwei historische Fluchtkontexte zusammen, die beide zur deutschen Geschichte gehören. Flucht ist hier nicht gleich Flucht. Im einen Fall geht es darum, an der Grenze ein Schlupfloch zu finden, um möglichst schnell das Land zu verlassen, im anderen Fall stehen Menschen in langen Schlangen an der Grenze und hoffen auf Einlass. Die eine Geschichte ging von Deutschland aus, die andere findet in Deutschland statt. Beide sind ein wichtiger Teil der deutschen Erinnerungskultur, und das Exilmuseum kann helfen, die Verbindung der einen Flucht mit der anderen Flucht herzustellen. Sie besagt: Derselbe Staat, der einst seine Jüdinnen und Juden ausgegrenzt, verfolgt, vertrieben und vernichtet hat, hat eine historische Verantwortung nicht nur für den Staat Israel und jüdisches Leben in Deutschland, aber auch für die, die heute nach Deutschland fliehen müssen. Zu den Rechtsgrundlagen unseres Staates gehört nicht nur das Recht auf Asyl, sondern auch der Schutz kultureller Identitäten. Rafael Lemkin, der jüdisch-polnische Jurist, der den Begriff ‚Genozid‘ prägte, wollte damit nicht nur Minderheiten vor Gewalt, sondern auch ihr kulturelles Erbe und ihre Identität schützen. „Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sagte Präsident Erdogan 2010 in einer Rede in Köln, in der er die religiöse und kulturelle Unabhängigkeit der türkischen Einwanderer in Deutschland betonte. Dieser Satz muss ihm allerdings selbst entgegengehalten werden, wenn es um den Gebrauch der kurdischen Sprache in der Türkei geht. Dasselbe gilt auch für Iran, wo der Gebrauch der kurdischen Sprache verboten ist. Erstaunlicherweise gibt es kein Menschenrecht, das den Gebrauch der eigenen Sprache schützt, aber es gibt immerhin einen ‚Tag der Muttersprache‘, den die UNESCO 2000 eingeführt hat. Der freie Gebrauch der Muttersprache gehört mit zur Menschenwürde, denn er macht den Kern menschlicher und kultureller Identität aus.
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