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6. September 2024

Eröffnungsrede von Anh-Linh Ngo

Am 6. September 2024 wurde in der Werkstatt Exilmuseum die Ausstellung "Kinder im Exil" eröffnet. Die Ausstellung entstand 2016 in der Akademie der Künste und ist nun in Kooperation mit der Stiftung Exilmuseum noch einmal zu sehen.

Bei der Ausstellungseröffnung hielt der Vizepräsident der Akademie der Künde, Anh-Linh Ngo, eine bewegende Rede. Hier ein Auszug:

„'WIR DÜRFEN DIE KINDER AUF KEINEN FALL AUSLASSEN.'
Diesen Satz von Bertolt Brecht, am Eingang der Ausstellung angebracht, hat Walter Benjamin in seinem Tagebuch überliefert. Brecht fragte Benjamin beim Zusammenstellen der Sammlung seiner Exilgedichte, die 1939 unter dem Titel 'Svendborger Gedichte' erschien, ob er seine Kinderlieder darin aufnehmen soll. Benjamin riet ihm ab. Brecht jedoch entgegnete: 'Im Kampf gegen die [Nationalsozialisten] darf nichts ausgelassen werden. Sie haben nichts Kleines im Sinn. Sie planen auf dreißigtausend Jahre hinaus. Ungeheure Verbrechen. … Sie verkrümmen das Kind im Mutterleib. Wir dürfen die Kinder auf keinen Fall auslassen.'

Brecht nahm sechs Kinderlieder in die Sammlung auf. Diese frechen, rebellischen Lieder richteten sich gegen Aberglauben, Unrecht und Dummheit. Er dachte dabei an seine eigenen Kinder, Barbara und Stefan, aber auch an all die anderen Kinder im Exil – und an die Kinder in Deutschland, die der nationalsozialistischen Indoktrination ausgeliefert waren.

Die Ausstellung 'Kinder im Exil' erzählt anhand von Briefen, Fotos und Dokumenten aus dem Archiv der Akademie der Künste die Schicksale einiger Kinder, die nach der Machtübernahme der Nazis Deutschland verlassen mussten. Wir können etwa die Stationen des Exils von Barbara und Stefan in Dänemark, Schweden und in den USA nachverfolgen. Wir können nachvollziehen, wie sie zur Schule gingen, ihre Schulabschlüsse machten und zu studieren begannen. Wir lernen, wie resilient Kinder sein können, und dass allen Widrigkeiten zum Trotz es gelungen war, sie ohne Furcht aufwachsen zu lassen, wie Helene Weigel 1967 resümierte:

'Und es musste möglich sein, dass die Kinder ohne Furcht aufwachsen konnten. Das ist gelungen.'

Dieses trotzige 'Und es musste möglich sein' erinnert ein wenig an Angela Merkels berühmte Worte während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015: 'Wir schaffen das!' Diese Beschwörung sei 'ein Akt von Großherzigkeit, gespeist aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte', so der Journalist Deniz Yücel.

Was ist heute, neun Jahre später, von dieser Großherzigkeit übrig? Welche Lehren ziehen wir 2024 aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte? Während die AfD in Thüringen und Sachsen Erfolge feiert, fordert Merkels Nachfolger im Parteivorsitz der CDU die widerrechtliche Zurückweisung von Geflüchteten an der Grenze – ein offener Angriff auf das Asylrecht. Nach dieser populistischen Logik würden wir heute jene Kinder, deren Geschichten wir hier ausgestellt sehen, zurückweisen.

Die Ausstellung 'Kinder im Exil' handelt so gesehen nicht nur von vergangenen Geschichten, sondern auch von unserer Gegenwart. Sie führt uns jedoch auch vor Augen, dass die Bindekraft der darin erzählten Geschichten schwindet. Wir sehen das an den aktuellen Wahlergebnissen in Thüringen, wo 38 Prozent der 18- bis 24-Jährigen eine Partei wählten, die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Hetze, Indoktrination und Angst vergiften die Seelen der Jugend. Nicht nur in dieser Altersgruppe hat das Storytelling der AfD verfangen.

Was tun?

Brecht kämpfte mit seinen Kinderliedern gegen Aberglauben, Unrecht und Dummheit. Dieser Kampf muss jede Generation aufs Neue führen. Heute müssen wir vor allem gegen Ignoranz ankämpfen. Denn es fehlt uns nicht an Wissen, theoretisch haben wir jederzeit Zugriff auf alles Wissen der Welt. Woran es fehlt, ist Vermittlung und Bildung. Deshalb hat der Satz 'WIR DÜRFEN DIE KINDER AUF KEINEN FALL AUSLASSEN' heute weiterhin Gültigkeit. Kinder und Jugendliche sind in besonderem Maße manipulativen Erzählungen in den Sozialen Medien schutzlos ausgeliefert. Bei der Aufklärung und Entwicklung von Gegennarrativen tragen Kulturinstitutionen wie die Akademie der Künste und die Stiftung Exilmuseum besondere Verantwortung.

Wir müssen Kinder befähigen, ihre Kreativität zu entdecken, damit sie sich als handelnde Subjekte einer offenen, demokratischen und solidarischen Gesellschaft erfahren – damit sie erfahren, dass sie ihre Lebenswelt aktiv gestalten können. Wir müssen sie neugierig auf das Fremde machen, sie gegen Desinformation wappnen, und ihnen beibringen, wie sie Medien kritisch und selbstbewusst nutzen können. Dazu können Kunst und Kultur einen Beitrag leisten.

Um sie zu erreichen, müssen wir allerdings die historischen Erfahrungen mit der Wirklichkeit der deutschen Gesellschaft von heute aktualisieren. Unsere Gesellschaft ist von Migrations-, Flucht- und Exilerfahrungen durchdrungen. Die Kinder im Exil heißen heute nicht mehr Barbara und Stefan oder Ruth, sondern vielleicht Nazeeha und Kefah – oder Anh-Linh. Auch ich teile das Schicksal vieler unbegleiteter Minderjähriger. Ich wurde im Alter von acht Jahren als Bootsflüchtling in Deutschland aufgenommen. Meine Eltern konnten sich nach dem Ende des Vietnamkrieges ein Leben ohne Freiheit nicht vorstellen. Wir setzten unser Leben aufs Spiel, um frei zu sein, frei von Furcht, frei von politischer Verfolgung und Indoktrination.

Aus eigener Erfahrung weiß ich daher: Brecht hatte Recht.
WIR DÜRFEN DIE KINDER AUF KEINEN FALL AUSLASSEN – auch heute nicht.

Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass die Kinder ohne Furcht aufwachsen können und dass wir eines Tages wie Helene Weigel sagen können: 'Das ist gelungen.'"